BGH: Urteil vom 29.06.2023
Aktenzeichen: IX ZR 56/22
§ 241 Abs. 2 BGB, § 280 Abs. 1 BGB, § 328 BGB, § 675 BGB
Verletzung einer Hinweis- und Warnpflicht bei möglichem Insolvenzgrund
Der Bundesgerichtshof (BGH) hat entschieden, dass die Hinweis- und Warnpflicht eines Rechtsberaters bei möglichem Insolvenzgrund nicht nur die Gesellschaft als Mandantin, sondern unter
bestimmten Voraussetzungen auch deren Geschäftsleiter – einschließlich faktischer Geschäftsführer – als Dritte schützt. Diese können in den Schutzbereich des Mandatsvertrags einbezogen sein und
bei Pflichtverletzungen Schadensersatzansprüche geltend machen, wenn Sie wegen Zahlungen nach Insolvenzreife vom Insolvenzverwalter in Anspruch genommen werden.
Zum Sachverhalt:
Die Klägerin macht Schadensersatzansprüche aus abgetretenem Recht gegen den Haftpflichtversicherer eines insolventen Rechtsanwalts geltend, weil dieser Hinweis- und Warnpflichten verletzt habe. Der Anwalt hatte eine Kommanditgesellschaft (KG) beraten.
Nach Insolvenzeröffnung wurden der frühere und der faktische Geschäftsführer der KG vom Insolvenzverwalter wegen verbotener Zahlungen nach Insolvenzreife nach § 64 GmbHG a.F. (jetzt § 15 b InsO) in Anspruch genommen und mussten einen Vergleichsbetrag zahlen. Die Klägerin verlangt diesen Betrag sowie entstandene Rechtsanwaltskosten als Schadensersatz, da der beratende Anwalt seiner Hinweis- und Warnpflicht hinsichtlich einer drohenden Insolvenz nicht nachgekommen sei.
[EXKURS: Im Unterschied zum alten § 64 GmbH konkretisiert § 15b Abs. 2, 3 InsO, welche Zahlungen mit der Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters vereinbar sind, insbesondere wenn sie der Aufrechterhaltung des Geschäftsbetriebs dienen. Danach sind grundsätzlich nur dann unter bestimmten Voraussetzungen privilegiert, wenn und solange sich die Geschäftsleiter rechtskonform im Sinne des § 15a InsO verhalten. Dies betrifft nur Zahlungen, die vor Ablauf der Insolvenzantragsfristen des § 15a InsO (maximal drei Wochen bei Zahlungsunfähigkeit und maximal sechs Wochen bei Überschuldung) geleistet wurden, und solange die Geschäftsleiter Maßnahmen zur nachhaltigen Beseitigung der Insolvenzreife oder zur Vorbereitung eines Insolvenzantrags mit der Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters betreiben.
Für Zahlungen nach Ablauf der Insolvenzantragsfristen des § 15a InsO scheidet eine Privilegierung hingegen aus. Im vorliegenden Fall waren die Fristen längst abgelaufen.]
Prozessverlauf:
Das Landgericht gab der Klage der Geschäftsleiter auf Schadensersatz gegen die beratenden Rechtsanwälte statt, das Oberlandesgericht wies sie ab. Der BGH hob das Berufungsurteil auf und verwies
die Sache zurück.
Wesentliche Entscheidungsgründe:
Anmerkung Fachanwalt für Handels- und Gesellschaftsrecht Dr. Sven Claussen:
Rechtsanwälte müssen bei drohender Insolvenz nicht nur gegenüber dem Mandanten, sondern auch gegenüber den Geschäftsleitern (einschließlich faktischer Geschäftsführer) Hinweis- und Warnpflichten beachten. Diese Personen können bei Pflichtverletzungen unter bestimmten Voraussetzungen Schadensersatz verlangen.
In einer insolvenznahen Situation ist fachgerechte Beratung unerlässlich. Nach aktueller Rechtslage kommt es entscheidend darauf an, ob sich die Geschäftsleiter im Sinne des § 15a InsO rechtskonform verhalten haben. Wichtig ist daher, dass der Eintritt von Insolvenzgründen rechtzeitig erkannt wird und dass umgehend die erforderlichen Maßnahmen, also entweder Maßnahmen zur nachhaltigen Beseitigung der Insolvenzgründe oder die Vorbereitung eines Insolvenzantrags, eingeleitet und vorangetrieben und rechtzeitig abgeschlossen werden.